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Die gemeinsam erschaffene Welt

Lebenswert Blog

Die gemeinsam erschaffene Welt

Sozialer Konstruktionismus 


Krisenmodus – hier sehen wir eindrücklich , was Bilder, Aufmerksamkeitsfokussierung und Kommunikation bewirken können.


An die Teilnehmenden des 2020 aktuellen Kurses „Systemisch beraten und coachen“ – Systemische Beratung DGSF am DISA.

Liebe Teilnehmer*innen,

wir sprachen bei unserem ersten Kursmodul über vier Quellen des systemischen Arbeitens. Eine davon war der soziale Konstruktionismus.
Ein gutes Beispiel zur Anschauung dafür ist meines Erachtens die augenblickliche Situation und der Umgang mit der „Coronakrise“ in Deutschland.

Ken Gerken sagte 1994 in einem Interview:
Bedeutungsgebung besteht in einem Prozeß ständiger Entfaltung, ist niemals festgelegt und immer abhängig von der Form unseres gemeinsamen Tanzes. Wir schaffen gemeinsam die Realität, aber es ist immer eine Realität ohne Anker, immer offen für eine Umwandlung – in der nächsten Konversation. ….Es ist niemals ganz klar, welches Spiel wir spielen.“

Und dies erinnert mich doch sehr an die aktuelle Situation.
Denken wir ein paar Wochen zurück. Da war die Welt in Deutschland noch heil (wenn man die damals geltende Normalität so bezeichnen möchte).
Dann kamen Nachrichten aus China. Diese Nachrichten hatten erst einmal für einen Menschen in Deutschland keine praktische Relevanz. Später kamen Nachrichten aus Italien. Medien und Politiker begannen, über neue Dinge zu sprechen. Szenarien wurden erstellt und verbreitet und damit Bilder von eventuell möglichen Zukünften übers Land verteilt. 

Noch immer gab es für die meisten Menschen in Deutschland keinerlei praktische Relevanz. Damit meine ich, das Lebensumfeld hatte sich nicht geändert, es gab (noch) keinerlei sinnlich erfahrbare Veränderungen. Bisher wurden nur Bilder erzeugt und ausgetauscht. 

Dann erschienen neue Protagonisten auf der Bühne – Wissenschaftler, Virologen.
Nun wissen wir, dass Wissenschaft auch nur eine weitere Art ist, die Welt anzuschauen, jedoch in unseren Breiten eine mit sehr viel Anziehungskraft und entsprechend großer Wirkung.
In die An-Sichten von Ärzten, die naturgemäß auf einen sehr speziellen Teil der gesellschaftlichen Realität fokussiert sind, wurde hinein gezoomt. Und sie erschienen ganz groß und beeindruckend auf der gesellschaftlichen Kinoleinwand.

Die Bilder aus dem Ausland wurden stärker. Wir hörten, sahen und lasen von Wuhan und von einzelnen Ortschaften in Italien – unsere Aufmerksamkeit wurde darauf fokussiert. Wir hörten und sahen wenig von einem Dorf auf dem Land in China, in dem sich erst einmal nicht viel geändert hatte, oder von einem Ort in Italien, in dem das Leben normal weiterging.

Und wenn wir doch von Orten hörten, in denen das Leben normal weiterging, änderte sich die Bedeutungsgebung. Es war nicht mehr die Rede von „normal“ sondern von „fahrlässig“.

Die Bilder und die neue Bedeutungsgebung zeigten Wirkung. Menschen waren beeindruckt und änderten ihre Bilder von „der Welt“.
Und Menschen mit vielen Einflussmöglichkeiten nutzten  ihre Möglichkeiten, um ihre Umgebung entsprechend ihres neuen Weltbildes zu gestalten. Sie verteilten Verhaltensempfehlungen, später Verhaltensgebote und danach Verhaltensverbote. Und sie nutzten die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, die Verbote durchzusetzen.
Viele Menschen waren mittlerweile bereit, sie als „sinnvoll“ zu betrachten.

Erstaunlich ist, wie schnell sich die neuen Bilder verbreiteten und veränderten. War erst die Rede von wenigen Wochen mit wenigen Beschränkungen, war bereits eine Woche später die Rede von kräftigen Beschränkungen und mehreren Jahren. 
Exponentielles Wachstum also nicht nur bei den Zahlen der Infizierten, sondern auch hier.

Und nun ist es eine neue Realität, sinnlich erfahrbar für (fast) alle Menschen im Lande.
Neue Regeln des sozialen Miteinander haben sich etabliert.

Wir haben eine neue Realität erschaffen – wieder einmal.

Und auch die Veränderung dieser augenblicklichen Realität ist schon sichtbar, die Konversation geht weiter. Es kommen Kritiker der aktuellen Maßnahmen auf die Bühne und wir dürfen gespannt sein, welche neuen Realitäten wir im Miteinander noch erschaffen werden.

Denn, „es ist immer eine Realität ohne Anker, immer offen für eine Umwandlung – in der nächsten Konversation. ….Es ist niemals ganz klar, welches Spiel wir spielen.“

Im Kurs erwähnte ich die „Wende“ in Ostdeutschland als großes Beispiel dafür, was sozialer Konstruktionismus meint. Doch die augenblickliche Situation übertrifft die damalige insofern, dass diesmal die Geschwindigkeit, mit der sinnlich erfahrbare Veränderungen eintreten, für mein Erachten wesentlich größer ist. Sinnlich erfahrbare Veränderungen, die für die meisten Menschen ohne sinnlich erfahrbare Auslöser geschehen sind.

Praktisch ausgedrückt: im Leben und direkten Umfeld der meisten Menschen ist (noch) gar nichts passiert und dennoch bleiben sie zu Hause und verzichten auf soziale Kontakte und ihnen bisher wichtige Aktivitäten. Sie waschen sich öfter die Hände als je zuvor, desinfizieren, was zu desinfizieren geht und kaufen Toilettenpapier sobald es welches gibt.

Hier sehen wir eindrücklich , was Bilder, Aufmerksamkeitsfokussierung und Kommunikation bewirken können.
Wahrheit ist aus systemischer Sicht nichts, worum es sich zu streiten lohnt, da wir DIE Wahrheit immer nur eingefärbt durch unsere persönlichen Filter wahrnehmen können. Insofern sind Bedeutungsgebungen, Erklärungen und Bewertungen für die eigene und die soziale Realität relevanter.

Für mich, den Autor dieses Briefes, ist nicht erkennbar, wie viel „Wahrheit“ sich hinter den Nachrichten und verbreiteten Bildern zum Corona-Virus verbirgt. Ich kann ihnen glauben oder auch nicht.
Erkennbare und spürbare Auswirkungen auf mein Leben haben jedoch die gemeinschaftlich erschaffenen Realitäten: Geschäfte haben geschlossen, es sind weniger Menschen auf der Straße und ich lese von Strafandrohungen bei Verstoß gegen aktuelle Regeln.

Außerdem gibt es eine Umdeutung praktischer Auswirkungen von mir positiv konnotierter Begriffe wie „Solidarität“ oder „Hilfe“. Diese werden nun, statt mit Nähe, mit Distanz verbunden. Insofern habe ich auch mein Verhalten verändert – und dies wiederum, das ist mir bewusst, hat auch vorbildhafte Wirkung auf mein Umfeld. So bin auch ich an der Erschaffung und Verstärkung dieser Realität, an dieser „Form unseres gemeinsamen Tanzes“ mit beteiligt.

Voller Erwartung wohin uns dieser Tanz noch führt,
grüße ich euch herzlich und wünsche euch für die kommende Zeit viel Klarheit für euch selbst und einen neugierigen und offenen Blick auf die (Um)Welt.
Und ich erlaube mir, auch weiterhin mit den mir vertrauten Worten zu schließen:

Lasst es euch gutgehen!

Herzlichst
Thomas Horst Lemke

Anmerkung:
Ähnlich wie der Radikale Konstruktivismus geht der Soziale Konstruktionismus davon aus, dass eine „objektive Realität“ prinzipiell unfassbar ist. Er schaut auf die Bezogenheit, auf die Koordination der Personen untereinander. Individualität ist dort eher ein Nebenprodukt. Konversation, der Dialog, wird als etwas gesehen, wo „Wirklichkeit“ entsteht. Zitat Ken Gergen (amerik. Sozialpsychologe, gilt als Hauptvertreter des Sozialen Konstruktionismus.) im Interview mit K. Deissler 1994: „Bedeutungsgebung besteht in einem Prozeß ständiger Entfaltung, ist niemals festgelegt und immer abhängig von der Form unseres gemeinsamen Tanzes. Wir schaffen gemeinsam die Realität, aber es ist immer eine Realität ohne Anker, immer offen für eine Umwandlung – in der nächsten Konversation.“

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