Glauben Sie, ich habe eine Chance?
„Glauben Sie, ich habe eine Chance, da herauszukommen?“ fragte er mich.
Und er fügte hinzu „falls ich das hier überleben sollte“.
Meine Antwort war “ Ja.“.
Doch beginnen wir von vorn.
Das 1. Treffen
Ein Mann, Unternehmer, etwa 200 Mitarbeiter, kam zu mir zur Beratung.
Vor etwa 3 Monaten wurde bei ihm eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert, die schnell voran schritt.
Durch die Krankheit fiel ihm auf, dass seine Beziehungen, auch zu
seinen Nächsten, sehr funktional und nur wenig tragend waren. Darüber
war er erschrocken. Er wollte verstehen, wie es dazu kommen konnte und
möglichst etwas daran ändern, wenn ihm dafür Zeit bliebe.
So
sprachen wir über seine Kindheit und seine emotional recht kühlen
Eltern. Wie man nahe, tragende und nährende Beziehungen führt, hatte er
dort nicht gelernt.
Als er knapp 30 Jahre alt war, erlebte er große
gesellschaftliche Verwerfungen, die „Wende“ in Ostdeutschland. Er
erkannte seine Chance, baute ein Unternehmen auf, was auch zügig wuchs
und eine herausragende Stellung im Markt erwarb.
Soweit lief alles glatt. Eine Frau hatte er auch gefunden, bekam mit ihr zusammen zwei Kinder und hatte so im Leben alles, was er sich gewünscht hatte. Allerdings nur äußerlich. Innerlich war er allein.
Dies fiel ihm
in den ersten Jahren nicht auf, da er es nicht anders gewohnt war.
Später jedoch meldete sich schon die Frage, ob dies so richtig und ob
dies schon alles sei.
Doch er hatte mit seinem Unternehmen immer viel zu tun und keine Zeit, sich diesen Fragen zu widmen.
Nun, mit Ende 50 und dieser Krankheit im Leib, drängten diese Fragen hervor.
Ihm war bewusst geworden, dass er sich in einem Netz von Beziehungen und Abhängigkeiten befand, dass ihm nicht gut tat.
Und so fragte er mich „Glauben Sie, ich habe eine Chance, da herauszukommen?“.
„Ja“, sagte ich, am Ende unseres ersten Treffens, noch bevor er selbst
die Einschränkung mit dem eventuellen nahenden Tod brachte.
Das 2. Treffen
Beim zweiten Treffen, drei Wochen später, sprachen wir über seine Arbeit.
Er hatte große Schmerzen, sprach kurz die Schmerzmittel an, die nur für die Hälfte des Tages reichten und wohl auch nicht noch höher dosiert werden konnten, wenn er noch weiterhin aktiv sein wollte.
„Wissen Sie“ sagte er „von außen sieht das ja immer so schön aus. Der hat ein Unternehmen, was gut läuft, und viel Geld. Und alle wollen davon gern etwas haben, der Teilhaber, der Prokurist, die Angestellten. Sie alle meinen, es liefe ja gut und es wäre alles sicher.
Doch ich weiß,
wie sehr das Unternehmen am seidenen Faden hängt. Den einen großen
Auftrag einmal nicht bekommen, sich dort verkalkulieren, noch ein
unvorhersehbarer Rechtsstreit dazu und eine Messe die ausfällt, so dass
wir keine Interessenten generieren können, schon kann das Ganze ins
Wanken geraten. Wenn die alle wüßten, wie viele Nächte ich nicht
schlafen konnte, weil mir das Schicksal meiner 200 Leute durch den Kopf
ging, falls die am nächsten Tag anstehende Verhandlung nicht zum Erfolg
führen würde…
Ich glaube, das hat zu meinem jetzigen Zustand beigetragen.“
Das 3. Treffen
Bei der dritten Sitzung dann, sprach er von seiner Frau und seinen Kindern. „Ich habe meiner Frau alles geboten. Das Haus, die Autos, die Reisen. Doch ich selbst war eigentlich nie anwesend. Ich hatte das nicht gelernt. Und es gab immer so viel zu tun mit der Arbeit. Ich kann verstehen, dass sie irgendwann aufgehört hat zu versuchen, mir nahe zu sein.
Und wenn ich erst an unsere Kinder denke…“ sagte er und Tränen tropften auf seinen mittlerweile viel zu großen Anzug. „Ich habe versucht mit denen zu sprechen. Sie hören mir auch zu, aber von ihnen kommt nichts zurück. Vielleicht ist es Ihnen ja auch unangenehm und ungewohnt ihren Vater jetzt so zu erleben.“
Die ganze Sitzung über war er in Bewegung, rückte auf dem Stuhl hin und her, stand auf und lief durch den Raum, setzte sich wieder, nur um bald wieder aufzustehen. Die Schmerzen ließen ihn nicht in Ruhe.
Am Schluss sagte er noch: „Danke, dass ich bei Ihnen sprechen konnte und für Ihre Fragen. Es ist nicht schön für mich, was ich da über mein Leben herausbekommen habe. Doch es ist gut, diese Erkenntnisse zu haben und vielleicht kann ich ja noch etwas tun.
Und danke auch, dass sie mich nicht nur das Schwierige haben sehen lassen, sondern auch das Gute, was ja auch in meinem Leben geworden ist, die Geräte, die wir entwickelt haben und die jetzt vielen Menschen helfen, und die Mitarbeiter mit ihren Familien die bei uns in Lohn und Brot stehen.
Ich habe in den letzten Wochen noch einmal sehr daran gearbeitet, dass das Unternehmen auch ohne mich weitergehen kann. Auch wenn es mir vergönnt ist, noch weiter zu leben, ich gehe da raus. Das habe ich nun wirklich geschafft.“ und seine Augen leuchteten kurz auf. „Vielleicht kann ich ja in Bezug auf Freunde und Familie, vor allem meine Frau und meine Kinder, auch noch etwas wieder gut machen. Denn was ich da jetzt sehe, das tut schon weh.“
Das Ende
Einige Wochen hörte ich nichts von ihm. Dann sah ich in der Zeitung die Anzeigen, von seiner Familie, von seinem Unternehmen, von einem Verein, den er gesponsert, und einem Verband den er wohl mitgeprägt hatte. Vier sehr sehr große Todesanzeigen allein in einer einzigen Zeitung.
Und weiter
Die Begegnungen mit diesem Mann beschäftigten mich noch eine ganze Weile.
Nicht, weil mir die Grunddynamik neu war. Dass Selfmade-Unternehmer zu
mir kommen, weil sie durch eine körperliche Krankheit beginnen anders
auf ihr bisheriges Leben und ihre Bewältigungsstrategien zu schauen und
diese zu hinterfragen, ist nicht selten.
Doch dem Ringen mit dem Tode und den Schmerzen so nah in meiner Praxis beizuwohnen, das war neu.
Im
Rückblick hätte ich ihm gewünscht, er wäre früher gekommen – schon als
ihn das erste Mal die inneren Fragen bewegten, schon als seine Frau von
ihm abrückte, schon als er so viele Nächte nicht schlafen konnte.
Doch das fällt gerade aktiven Menschen, die es gelernt haben allein zu
sein und nur auf sich selbst zu bauen, schwer. Im Berufsleben oftmals
durchaus erfolgreich, versuchen Sie, wenn etwas nicht läuft, sich
einfach noch mehr anzustrengen. Und kommen gar nicht auf die Idee, dass
das, was sie zum Ziel bringen soll, nämlich die Anstrengung und das
Sich-Überwinden, Ihnen nun selbst schadet.
Meine Erfahrung
Ja, Manchen gelingt es, die Kurve noch zu bekommen – die Veränderungen etwas früher einzuleiten.
Als Erfahrungswert kann ich sagen, wem von den folgenden Dingen zwei
oder mehr innerhalb eines Jahres geschehen, der ist schon spät dran und
sollte sich unverzüglich in Beratung begeben: die Partnerschaft
zerbricht, das eigene Unternehmen sackt ab oder die Arbeitsstelle wird
gekündigt, es entsteht heftiger Streit, beruflich oder privat, oder es
melden oder vermehren sich gesundheitliche Beschwerden.
Sich den dahinter liegenden Themen zu stellen, ist nicht leicht. Es kann aber, nach meiner festen Überzeugung, auch lebensverlängernd sein.
PS: Alle Fallbeispiele sind im wesentlichen so geschehen, jedoch hier verändert beschrieben, um die Privatsphäre meiner Klienten zu schützen.