Formulierungsfragen sind Denkfragen
„Formulierungsfragen sind Denkfragen“ sagte uns unser Lehrer früher oft.
Und während ich es damals in der Schulzeit eher auf einer flachen Ebene verstand, sehe ich heute einen tieferen Sinn darin.
Wie wir etwas formulieren, welche Worte wir verwenden, sagt viel über unser Denken und über unser Weltbild aus.
Nehmen wir den Beispielsatz „Wir werden belogen und betrogen.“, den ich in den letzten Wochen, während der Coronakrise, oft höre und lese.
Unterstellt Vorsatz
Diese Formulierungen unterstellen dem Gegenüber einen Vorsatz. Da meint es jemand schlecht mit uns und führt uns bewusst hinters Licht.
Nun wissen wir aus dem systemischen Arbeiten, dass es in der Regel nicht hilfreich ist, Aussagen über die Motive eines anderen als Tatsache zu formulieren, da wir nicht wirklich sicher sein können, sie „richtig erkannt“ zu haben.
Sicherer sein können wir mit dem, was wir selbst wahrnehmen oder empfinden. Und, einem besseren Miteinander zuliebe, könnten wir auch so formulieren.
Zum Beispiel:
Stufe 1: „Ich fühle mich belogen und betrogen.“
oder Stufe 2: „Ich bin mir nicht sicher, dass hier ehrlich mit mir umgegangen wird“
oder gar Stufe 3: „Ich fühle mich unsicher und glaube das nicht.“
Wer sagt, „Wir werden belogen und betrogen“ – wertet sein eigenes Gefühl und seine Wahrnehmung als Tatsache auf und unterstellt einem anderen vorsätzlich böswilliges Handeln.
Nun mag es auch Menschen geben, die vorsätzlich böswillig handeln. Doch nach meiner Erfahrung ist das viel viel weniger der Fall, als es unterstellt wird.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich meist, dass beide Seiten ähnliche Motive haben – „Gutes wollen“ – nur aus ihrer Lebenserfahrung heraus verschiedene Schlüsse ziehen, verschiedene Bedeutungen verleihen und damit zu verschiedenem Handeln kommen.
Kurz gesagt, begegnen mir an dieser Stelle viel öfter Missverständnisse, als böser Vorsatz.
Hier wäre nun Dialog angesagt. Hier wäre es angesagt, sich auszutauschen, aus welchen Motiven heraus jemand handelt, um dann gemeinsam zu schauen, ob man gemeinsame Lösungen finden kann.
Da jeder Mensch aus seinem Erfahrungsschatz heraus handelt, heißt das auch, wenn wir miteinander in Kontakt gehen, geben wir diese Einzelerfahrung des Meinungsaustauschs gegenseitig unserem Erfahrungsschatz hinzu und kommen damit im besten Fall zu ähnlicheren Schlüssen.
Voraussetzung ist, dass wir Austausch weiter ermöglichen, indem wir Unterstellungen lassen.
Markiert Täter und Opfer
Bei der Formulierung „Wir werden belogen und betrogen.“ gibt es jemanden der handelt und jemanden, mit dem etwas gemacht wird.
Da gibt es einen Tu-er (Täter) und ein Opfer.
Da gibt es jemanden, der „die Verantwortung hat“ und jemanden, der „nichts dafür kann“.
Werden Menschen in ihrem Miteinander solche Rollen zugeschrieben, ist es schwer, da wieder herauszukommen.
Im systemischen Arbeiten ist bekannt, dass Menschen, die sich auf solche Weise in die Opferrolle begeben, sich darin oft sehr bequem einrichten und nur schwer bereit sind, ihren Teil der Verantwortung für das Miteinander zu übernehmen.
Und eine gemeinsame Beziehungsynamik lässt sich nur konstruktiv ändern, wenn von allen die eigene Verantwortung übernommen wird.
Gegenüber statt Miteinander
Im Falle der Coronakrise setzt sich da etwas fort, was auch vorher schon oft beobachtbar war.
„Der Staat“ und „seine Vertreter“ werden als ein Gegenüber begriffen, statt als Ausführungsorgan einer Gemeinschaft, der man angehört.
Da macht man sich nicht die Mühe, am Erstellen der gemeinsamen Regeln mitzuarbeiten, sondern zieht sich in die Opferecke zurück.
Da werden Regeln, die fürs eigene Leben unbequem sind, als unnütz und willkürlich abgestempelt, statt sich die Mühe zu machen, ihre Sinnhaftigkeit für das gemeinschaftliche Miteinander zu erkennen bzw. an ihrer sinnvollen Veränderung konstruktiv mitzuwirken.
Zeigt auf, welche Handlungsoptionen man sein Eigen nennt
Wer „belügen und betrügen“ als Worte benutzt, in dessen Weltbild sind diese Kategorien offensichtlich (sehr) präsent.
Er legt sein Gegenüber fest und schreibt es ab. Manche würden dazu auch sagen „Was ich selber denk und tu, das trau ich auch den Andern zu“.
Wer das Weltbild hat, dass die meisten Menschen im Grunde gut sind, Gutes wollen und mitfühlend sind, gibt einem selben Sachverhalt vielleicht eher die Bedeutung eines aufzuklärenden und aufklärbaren Missverständnisses – und wird sich für mehr Kommunikation engagieren.
Formulierungen schaffen und offenbaren Weltbilder
„Am Anfang war das Wort“ – dem könnte man hinzufügen „und am Ende ebenfalls“
Welche beobachtbare „Tatsache“ wird wie beschrieben und welche Bedeutung wird ihr angehangen, daran arbeiten wir viel in unseren systemischen Kursen.
Denn damit werden Wirklichkeiten geschaffen. Und Wirklichkeiten sind das, was wirkt.
Seien wir uns also unserer Formulierungsmacht bewusst und gehen wir verantwortlich mit ihr um.
Und nehmen wir zur Kenntnis, dass auch unsere Formulierungen unser Denken offenbaren und unser Weltbild beschreiben.
In diesem Sinne, denkt nicht nur nach, sondern auch vor
und lasst es euch gut gehen!
Herzlich grüßt
Thomas Horst Lemke