„Am liebsten würde ich alles hinwerfen“
„Eigentlich sieht es gut aus bei mir“ – sagte sie zu Beginn.
Sie war, als sie im mittleren Lebensalter war, mit ihrem Mann in eine neue Stadt gezogen und hatte dort, ihrem Interesse und ihrer Expertise folgend, eine Kunstgalerie eröffnet.
Das Geschäft baute sich gut auf. Sie war in der Kunstszene der Stadt geachtet und gab viel für ihre Kunden und ihre Künstler.
Später expandierte sie in eine der größten Städte des Landes und hatte auch daran viel Freude – und viel Arbeit.
Mindestens einmal in jeder Woche reiste sie zwischen den Städten hin und her. Das machte ihr Freude und zahlte sich auch aus, der Umsatz stieg, Stück für Stück.
„So hätte es weitergehen können. – Doch jetzt würde ich am liebsten alles hinwerfen.“
Nun saß sie vor mir
Der Gewinn war eingebrochen, Kunden und Künstler zogen sich zurück und sie wirkte mir angestrengt und fahrig.
„Gerade jetzt, wo ich doch noch in die neuen Räume umgezogen bin!“ – sagte sie.
Um die Galerie in der größeren Stadt noch besser zu verankern, hatte sie neue Räume bezogen. Dies hatte sie im letzten halben Jahr sehr beschäftigt und eine Menge Kraft gekostet.
Das Reisen zwischen den Städten hatte seinen Reiz verloren und war nur noch Last.
Die Geschäftszahlen zeigten, dass in den letzten Jahren zwar der Umsatz regelmäßig gestiegen war, die Gewinne jedoch nicht.
Und ihr war bewusst geworden, dass ihre Lebenskräfte nicht ewig für weitere Aufbauphasen reichen würden.
Was nun?
Weniger Kunden und Künstler, mehr Personal und teure Räume.
Vor mir saß eine Frau im wahrscheinlich letzten Drittel ihres Arbeitslebens, von außen anerkannt, gemocht, gebraucht und geachtet. Und im Inneren voller Zweifel.
Schnell wurde mir während des Coachings deutlich, dass es hier vor allem erst einmal um Emotionales gehen würde.
Natürlich spielten die wirtschaftlichen Aspekte eine große Rolle, doch um diese zu ordnen, musste sie erst einmal zu emotionaler Klärung finden.
„Warum machen sie das alles?“
…fragte ich sie.
„Aus Freude“, war die erste Antwort.
Doch bald sprachen wir über die Beziehung zu ihrem Mann, das konkurrieren zu finanziellen Themen und ihren Wunsch, ihm zu zeigen, dass sie auch finanziell erfolgreich sein konnte.
Wir sprachen auch über ihre Eltern und wie sie gern die Anerkennung ihres Vaters bekommen hätte. Und wir sprachen über ihre Freundinnen, den Wunsch dazu zu gehören und über Geborgenheit.
Dies alles bewegte sie sehr und sie griff auch manchmal zum Taschentuch.
„Ich glaube, ich war immer auch sehr getrieben. Damit habe ich es vielleicht auch manchmal überzogen und mehr gemacht, als gut gewesen wäre.„, sagte sie dabei einmal.
Diesem Getriebensein auf die Spur zu kommen, mehr Ruhe zu erreichen und die eigenen Erfolge besser würdigen zu können, war wichtiger Teil unserer Arbeit.
Wie nun weiter?
Nachdem sie emotional mehr im Frieden sein konnte, war ihre Kompetenz auch frei, die wirtschaftlichen Belange zuordnen.
Wir sprachen über Finanzpläne und Zukunftsideen.
Mit einer erfolgreichen Abschlussausstellung zog sie sich dann aus der großen Stadt zurück an ihren Stammsitz.
Sie intensivierte dort die Kontakte zu Kunden und Künstlern wieder und baute in der Folgezeit noch weitere profitable Geschäftsbereiche auf.
Fazit:
An ihrem Beispiel ist gut zu sehen, wie wichtig es ist, gelegentlich seine Motive neu zu ordnen.
Der Antrieb, es jemandem beweisen zu wollen (Mann, Vater) war in der Anfangs- und Aufbauphase sicherlich hilfreich und hat ihr Kraft gegeben. Doch auf Dauer hätte er sie wahrscheinlich in Überforderung oder völlige Erschöpfung geführt. Oder aber sie hätte mit einer Art trotziger Reaktion „alle hingeworfen“ und damit auch das Bewahrenswerte zerstört.
Durch die Beschäftigung mit Teilen ihrer eigenen Lebensgeschichte konnte sie nun freier bestimmen, wie sie mit den vermeintlichen internalisierten Forderungen des Vaters umgehen will und sich von deren Drängen befreien, sowie ihre Beziehung zu ihrem Mann ordnen.
Sie konnte ihre bisherigen Erfolge besser sehen und würdigen und dann entscheiden wie sie mit den vorhandenen Kompetenzen und materiellen Gütern weitergehen wollte.
PS: Alle Fallskizzen sind im Wesentlichen so geschehen, jedoch hier verändert beschrieben, um die Privatsphäre meiner Klient*innen zu schützen.